Soweit also jemand sich seine Weltanschauung oder Religion (siehe Teil 1) selbst aufbaut aus dem, was er erfährt und erlebt, ist diese Weltanschauung und Religion bei den einzelnen Menschen je nach ihrer inneren Kraft, Willensenergie und Gesundheit sehr verschieden.
Aber keineswegs jedermann hat Zeit, Verlangen und Fähigkeit, sich seine Anschauungen über diese Dinge selbst zu ersinnen und zu erkämpfen. Der Ursprung der Religion und Weltanschauung, die Herkunft einer religiösen „Offenbarung“ und weltanschaulichen „Erkenntnis“ ist daher sehr verschieden. Beim einen kommt sie zustande, indem er selbst seine Augen und Ohren auftut, sieht, hört, fühlt, forscht und nachdenkt; beim anderen, indem er fertige Anschauungen, Lehren, Lebensrezepte und Dogmen von anderen übernimmt, die er selbst auf ihre Gültigkeit, Richtigkeit und Bündigkeit keineswegs immer überprüft hat. Es sind das dann meist Vorstellungen, Träume, Hoffnungen, Visionen und Auffassungen von Männern, die längst vor unseren Tagen teils in geschichtlich bekannten, teils in sagenhaften Zeiten gelebt haben, und deren Meinungen in „heiligen“ Büchern und Schriften verbreitet und in zahlreichen Abwandlungen überliefert worden sind und als „Offenbarungen“ des Göttlichen gelten.
Diese anderen aber, von denen die Menschen ihre schriftlichen oder mündlichen Offenbarungen beziehen, sind stets auch irgendwann einmal Menschen gewesen und haben als Wesen von Fleisch und Blut in irgendeiner Zeit, die ihre eigenen, von den unseren teils verschiedenen, teils ihnen auch ähnlichen Erlebnisse hatte, gelebt, gedacht, gehandelt und geirrt. Auch diese haben ihre Religion entweder wiederum von anderen überliefert erhalten und ihrem Wesen entsprechend abgewandelt oder als absonderliche oder hervorragende, eigenständige oder eigentümliche Persönlichkeiten sich eine eigene Religion ersonnen und erprobt. Auch diesen Männern aber stand – wie sie auch immer beschaffen gewesen sein mögen – zum Aufbau und zur Begründung ihrer Anschauungen und Lehren nichts anderes zur Verfügung als jedem Menschen dazu zur Verfügung steht: sein Körper, sein Verstand und sein Gemüt und die Welt um ihn, die er mit diesen Teilen seines Ich erlebte.
Vorwiegend für die Verbreitung bestimmter Religionen tätige Menschen sind die Priester und Geistlichen der verschiedenen Bekenntnisse. Menschen, die eine neue Religion ausdenken, schaffen, „offenbaren“ und dann verbreiten, sind „Religionsstifter“. Auch sie sind wie alle Menschen von ihrer Erbwelt und Umwelt, vom Erkenntnisstand ihrer Zeit und ihrem ererbten genetischen Wesen abhängig. Auch sie sind auf ihren Leib, ihren Geist und ihre Seele und all jenes angewiesen, was ihre fünf Sinne ihnen an Schwerverständlichem und Selbstverständlichem, Verehrungswürdigem und Verabscheuungswertem, Abstoßendem, Schrecklichem oder Schönem und Anziehendem, Lebenshemmendem, Lebensvernichtendem oder Lebenssteigerndem während ihres Daseins „offenbaren“. Auch jene heiligen Bücher und schriftlichen Überlieferungen und Offenbarungen, auch jene „Worte Gottes“ sind irgendwann einmal von Menschen erlebt, erträumt, erhofft, ersonnen und aufgezeichnet worden. Es ist deshalb ganz selbstverständlich, dass jede Weltanschauung und jede Religion die Eigentümlichkeiten und Zeitbedingtheiten, Fähigkeiten und Mängel ihrer Gründerpersönlichkeiten aufweisen, soweit nicht neue Züge, Anschauungen und Dogmen durch irgendwelche späteren Jünger und Anhänger hinzugekommen sind. Aber auch diese wieder sind menschlichen Ursprungs. Die sogenannten „ewigen Wahrheiten“ sind tatsächlich nur dann wirklich „ewig“ und endgültig „wahr“, wenn sie eine unverrückbare Erkenntnis gültiger Naturgesetzlichkeit wiedergeben. Tun sie das nicht, stehen sie vielmehr mit ihrer Tradition einer Erkenntnis des wirklichen gesetzmäßigen Zusammenhanges im Wege, dann müssen sie früher oder später besserer Einsicht weichen, ebenso wie das biblische Dogma von der Unbeweglichkeit der Erde nach den Entdeckungen von Kopernikus, Kepler und Galilei mit der Zeit selbst innerhalb der sich dagegen mit allen Mitteln wehrenden katholischen Kirche der besseren Einsicht weichen musste, dass die Erde als Stern unter Sternen um die weit größere Sonne kreist.
Deshalb trägt jede Religion und somit auch jede „Weltanschauung“ die Gefahr in sich, im Laufe der Zeit zu veralten und zu erstarren, es sei denn, sie richtet sich nicht nach einer einmaligen und deshalb in ihrem Wert vergänglichen schriftlichen oder mündlichen „Offenbarung“ der Vergangenheit, sondern nach der „natürlichen“ Offenbarung, die sich dem Menschen in den Gesetzen und in dem Erleben der Natur um ihn und in ihm täglich von neuem in jeder Gegenwart erschließt. Diese natürliche Offenbarung der Gesetzmäßigkeit, der Allmacht und der Ordnung in dem ewigen Stirb und Werde des Lebendigen und in dem grenzenlosen Wellengang des Geschehens im Weltall ist wahrhaft unvergänglich, vom Menschen im letzten unabhängig und somit wahrhaft etwas Göttlich-Schicksalhaftes. Dieses Göttliche ist uns am ehesten, am unverfälschtesten und echtesten über unser eigenes Leben, über die feinen Antennen unserer Sinne und die Erfahrungen unseres Verstandes, über unsere persönliche Umwelt und unsere eigene Erbwelt zugänglich und verständlich. Bessere Künder und Offenbarer als Bücher und Katechismen, Heiligenlegenden und Bibelstellen, Psalmen und Rosenkranzsprüche sind uns Feld und Wald, Heimat und Geschichte, Mikroskop und Fernrohr, Jahreslauf und Menschenschicksal, Arbeit und Kunst, Tier, Pflanze und Stein und das notwendige Gesetz und die gesunde Ordnung, die all das erfüllt.