Das 18. Jahrhundert ist das Zeitalter der „Aufklärung“. Aus der Gesamtheit der menschlichen Kräfte löst sich die Vernunft heraus und sucht ungebunden durch religiöse Glaubenssätze und staatlich-gesellschaftliche Überlieferungsmächte die Welt zu durchdringen und ihre „eigentlichen“ Gesetze zu erkennen. Überall waren Vorurteile zu beseitigen, jahrhundertelange Irrtümer und Dunkelheiten schienen sich aufzuhellen, in allen Ländern, in Holland wie in England, in Frankreich und in Deutschland regten sich kampflustig die Geister, um die religiösen und geistigen, schließlich auch die gesellschaftlichen und politischen Formen zu zerbrechen oder jedenfalls zu wandeln und den Erkenntnissen der „Vernunft“ anzupassen.
Es ist eine Zeit großer Bewegungen und Hoffnungen, des mutigen Befreiens geistiger Kräfte, der stolzen Besinnung auf menschliche Würde. Und dennoch hatte diese Zeit, die über alle bisherigen Jahrhunderte sich erhaben dünkte, in der einseitigen Schätzung der Vernunft ihre Grenzen und Irrtümer, mit deren letzten Resten die geistige und politische Bewegung unserer Tage den Kampf aufnahm. Manche innere Bindung wurde damals als „Vorurteil“ gelöst, deren tiefe Weisheit und innere Notwendigkeit wir heute wieder erfassen, und so wenig wir die ritterliche Vernunft eines Lessing (1729 – 1781) und die unerbittliche Forschung eines Kant (1724 – 1804) jemals vergessen, den Kampf für Wahrheit und Würde, gegen Wahn und starre Konvention jemals als überholt ansehen werden, so sehr haben wir doch in Liberalismus und Marxismus, in dem satten Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts, man habe es „herrlich weit gebracht“ und werde es auf die rechte rationelle Weise bis zu paradiesischen Zuständen bringen, die Kehrseite dieser rationalistischen Strömung erfahren.
Einer der Begriffe, mit dem eine starke Richtung des 18. Jahrhunderts aufräumen zu müssen glaubte, war der des Staates. Man empfand den Staat als Hemmung der persönlichen Freiheit und als eine betrübliche Minderung des ursprünglichen Glücks, dessen sich der Mensch im Naturzustand erfreut.
Der Mensch werde frei geboren, jetzt sei er aber überall in Banden, so ließ sich Rousseau (1712 – 1778) vernehmen; das komme daher, dass der Staat seine Rechte überschritten habe; der Staat beruhe auf einem Vertrag der Menschen untereinander und habe nur dann Sinn, wenn er die Freiheit des einzelnen, sein menschliches Recht und Glück sichere. Hier fehlt jeder Sinn für die großen geschichtlichen Mächte, für die schöpferische Kraft der Gemeinschaft, für Hingabe und Opfer über das persönliche Sein hinaus; aber man darf nicht vergessen, welchen Staat die Aufklärer vor sich haben: den Absolutistischen!
Ihm gegenüber war die Erörterung der menschlichen Zwecke des Staates eine Vertiefung und eine Wegbahnung für die kommenden Einsichten in die volle, lebendige Größe des Staates. Während bei aller Weltbürgerlichkeit die Engländer ihre Eroberungen, die Franzosen ihre Vorherrschaft in Europa nicht vergaßen, brach in Deutschland im 18. Jahrhundert die Schwärmerei für die allgemeine Menschheit ungehemmt aus, und für uns wäre die politische Wirklichkeit dieses Jahrhundert völlig verloren, wenn nicht jenseits aller Theorien Einer Macht gesammelt und gefestigt hätte: Friedrich der Große.
Die Nation erschien dem damaligen Deutschen als etwas zufälliges und mehr äußerlich Gegebenes. Wieland (1733 – 1813) nannte den deutschen Patriotismus eine Modetugend. „In meiner Kindheit“, so stellt er fest, „wurde mir zwar viel von allerlei Pflichten vorgesagt; aber von der Pflicht, ein deutscher Patriot zu sein, war damals so wenig die Rede, dass ich mich nicht entsinnen kann, das Wort deutsch jemals ehrenhalber nennen gehört zu haben.“
In Wahrheit gäbe es kein gemeinsames Deutschland außer in der Sprache, sonst sei alles durch Sitten, Interessen, Regierungen verschieden und getrennt. Und selbst Lessing schrieb während des Siebenjährigen Krieges, er habe von Vaterlandsliebe keinen Begriff, und sie scheine ihm aufs Höchste eine heroische Schwachheit, der er recht gerne entbehre.
Schiller schrieb 1789 an Körner: „Es ist ein armseliges Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren, zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stillestehen. Er kann sich nicht weiter dafür erwärmen, als soweit ihm diese Nation oder Nationalbegebenheit als Bedingung für den Fortschritt der Gattung wichtig ist.“
(Fortsetzung folgt.)