Kein Ereignis im Ablauf der Jahresfesttage rührt dem deutschen Menschen mehr an sein innerstes Lebensgefühl und bringt seine Seele mehr zum Klingen und zur tiefsten Verbundenheit mit den Urkräften des Kosmos als die „Nacht der Weihe“. Es ist – man kann es mit vollem Rechte sagen – das Weihnachtsfest das deutscheste aller Feste und die Art, wie wir es in unserer Mitte begehen, hat deutsche Innerlichkeit und deutsches Wesen in alle Welt getragen. In welcher Form auch immer wir unser Verhältnis zum Schöpfer empfinden – was auch immer unsere Vorstellung von Gott und seiner Macht und Größe sei –, wir alle finden uns zur Wintersonnenwende gemeinsam unter dem brennenden Lichterbaum zusammen und erleben an ihm immer wieder von Jahr zu Jahr aufs Neue das Staunen, die tiefe Ergriffenheit und innere Beglückung der festlichen stillen Hingabe an das Wunder des Lebens in dieser Nacht.
Allein schon dieser Umstand des Versöhnenden gegenüber allen sonstigen Verschiedenheiten konfessioneller Art macht uns offenbar, wie tief in unserem Herkommen der Anlass zu diesem Feste begründet liegt. Weit zurück in frühe Zeiten unseres Volkstums führt uns die Besinnung auf den inneren Sinn des Weihnachtsfestes, der sich so ungebrochen durch die Jahrtausende bis in unsere Tage hinein erhalten hat, so dass er unter uns wieder wie immer seine Gemeinschafts- und Schicksalsverbundenheit spendende Kraft mächtig entfalten kann.
Denn dies ist das Gemeinsame, dass alle Deutschen in der Weihnacht sich als Deutsche erkennen, die tiefe Verbundenheit aus Blut und Schicksal erleben und eine Ahnung verspüren einer alles Konfessionelle übergreifenden gleichen Bindung an das Göttliche in der Welt.
Wir denken dabei nicht an vergangene Gottesvorstellungen in unserem Volke. Auch sie sind, wie alles Leben, geschichtlichen Wandlungen unterworfen. Es gibt hier kein starres Dogma und in demselben Maße, wie ein Volk sich allmählich in den Lebensordnungen der Kultur entfaltet und der Umkreis seines Erkennens und Wissens sich mehr und mehr weitet, vervollkommnet sich auch seine Vorstellung von Gott.
Aber wir denken an die besondere Art der Begegnung mit den Kräften der Schöpfung, an die innere Haltung unserer Vorfahren zu ihnen. Diese ist unverändert geblieben und sie verbindet uns gleichermaßen untereinander wie mit den Geschlechtern vor uns.
Es ist kein Wesensunterschied im inneren Erleben jener Menschen, die nach langer und manchmal banger Winterzeit mit Jubel und jäh aufbrechender Lebensfreude den wieder aufs Neue himmelansteigenden Sonnenball begrüßten, in dem sie den Ausdruck einer ihnen verbundenen göttlichen Macht sahen und den Menschen unserer Tage, die den Bogen des Erlebens weiterspannen und in der Weihnacht sich immer wieder voller Bewegtheit der inneren Schau des „Vergehen und Werden“, des „Stirb und Werde“ hingeben.
Denn was will es besagen, dass zu den Zeiten unserer Ahnen die Kenntnis der Welt und des Kosmos um vieles geringer war als die unsrige? Sie fühlten sich vom Göttlichen unmittelbarer und näher umgehen und was uns sich in Naturgesetzlichkeiten offenbart, war ihnen vielfach Anlass religiösen Erlebens und Äußerungen göttlichen Waltens. Uns ist Gott weiter entrückt, in nicht mehr greifbare Formen, wenn wir ihn von außen suchen wollen und unser Bewusstsein umspannt erkennend den Erdball und dringt über ihn hinaus in den Kosmos. Wir wissen es, dass die Erde um die Sonne schwingt und diese selbst nur eine bescheidene Stellung im Meer der Sterne einnimmt, das sich unserem zur Nachtzeit zum Himmel gerichteten Auge bietet. Aber all dieses Wissen hat uns in nichts dem Erkennen der Allmacht nähert gebracht, die uns so machtvoll und unergründlich umgibt wie am ersten Tag des Menschendaseins.
Es ist uns auch offenbar heute, dass das Erleben der Wintersonnenwende auf der Erde raumgebunden ist und auch insofern ihr eigentlich blutgebundener Charakter sich ausweist. Denn die Völker des Südens und anderer Kontinente begehen ihr „Weihnachtsfest“ nicht aus dieser Urverbundenheit kosmischen Erlebens des Sieges vor der Sonnenhitze und der Inhalt ihres Festes ist allein die Geburtsfeier Christi. Auch hier zeigt sich das Ausmaß der weltpolitischen Bedeutung des Entschlusses der Kirche im Jahre 354, die Weihnacht in Verbindung mit der Geburt Christi zu bringen. Sie sicherte sich dadurch gerade im europäischen Raum mehr als durch vieles andere ihren Bestand, indem sie das althergebrachte Brauchtum übernahm und später als eigenen Besitz ausgab und mit ihren Ausdeutungen versah. So wurde das aus germanischem Lebensumkreis erwachsene Julfest und die mit ihm verbundene deutsche Weihnacht zu einem Weltfest, das von vielen Völkern der Erde nunmehr am gleichen Tag begangen wird. Aber wie es begangen wird, ist überall verschieden – und unter allen hat das deutsche seien besondere Eigenart, von der wir oben sprachen, die sich auf das innerste Erleben tiefster Natur- und Lebensverbundenheit und besonderer geschichtlicher Entwicklung gründet, behalten. Sein Symbol ist der brennende Lichterbaum.